Ich habe schon des Öfteren auf meinem Blog Beiträge veröffentlich, die sich mit der Methode Flipped Classroom beschäftigen.
Sebastian Schmidt beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dieser Methode im Mathematikunterricht. Vor den Ferien hat seine erste Klasse, die mit Hilfe des Flipped Classroom unterrichtet wurde, die Schule verlassen. Seine Erfahrungen hat er im folgenden Artikel zusammengefasst. Sebastian Schmidt hat eine eigene Internetseite die unter folgendem Link zu finden ist. Außerdem besitzt Sebastian Schmidt einen YouTube Kanal.
Ich finde es schön, wenn neben meinen eigenen Beiträgen in diesem Weblog auch andere Menschen zur Sprache kommen, Daher werde ich jetzt meinen ersten Gastbeitrag veröffentlichen.
Projektklasse Flipped Classroom – Auswertung
Was waren das für Höhen und Tiefen in den letzten 2,5 Jahren. Von einer Idee und Überzeugung getrieben, wollte ich unbedingt meinen Unterricht mit Erklärvideos aufwerten. Doch das hört sich leichter an als gedacht. Ich musste schnell feststellen, dass man mit Videos bei YouTube noch keinen Schüler besser macht. Sie verstehen vielleicht die Herleitung, Beweis,… besser, aber selbst geübt und kapiert haben sie es dadurch noch nicht. Erschwerend kommt hinzu, dass eine derartige Innovation auch bei den Schülern manchmal für schwache Nerven sorgt. Nach einem Jahr unterrichten mit Erklärvideos hatte ich endlich das Konzept aus Amerika hinter diesem Einsatz entdeckt: Flipped Classroom. Davon inspiriert habe ich meinen fachlichen Lehrerinput bzw. Erarbeitungen mittels Video auf den Nachmittag verschoben, quasi als Vorbereitung. Das hat zu Protesten in meiner Projektklasse geführt: „So kann man nicht unterrichten“ „Sie müssen uns das im Unterricht beibringen“ „Wir wollen das nicht“,… Wohlgemerkt, mit meinen Erklärvideos im Unterricht hatten sie kein Problem. Nach vielen Gesprächen hatten wir uns dann auf einen Deal geeinigt: Die Hausaufgabe wird nie länger als 20 Minuten dauern und es wird nie mehr eine reine Übungshausaufgabe geben. Ich versprach meinen Schülern außerdem, dass wir nach zwei Monaten wieder darüber diskutieren werden. Sollten sie dann nicht von dem Konzept überzeugt sein, hätte ich das Projekt beendet und wäre zum traditionellen Unterricht zurückgekehrt.
Die ersten Erfolge
Nach zwei Monaten gab es keinen Einzigen mehr, der noch zum alten Unterricht zurück wollte. Die Schüler selbst hatten verstanden, was der positive Mehrwert für sie von Flipped Classroom ist: Mehr Zeit im Unterricht für gegenseitige Hilfe, mehr Zeit für den Lehrer, individuell auf die Schüler einzugehen, weniger intensive Hausaufgaben, die Videos sind jederzeit einsehbar und wiederholbar und weniger Probleme mit dem Fach Mathematik, wenn Sie sich nur intensiv im Unterricht damit befassten. Vor allem von den Eltern hatte ich bis zum Schluss keine Kritik gehört.
Trotzdem war es natürlich noch nicht zu Ende mit den Problemen. Anhand meiner YouTube-Statistik konnte ich ziemlich schnell erkennen, dass meine Videos zwar von allen angesehen wurden (Klickzahl), aber die durchschnittliche Wiedergabezeit weit unter der tatsächlichen Länge des Videos lag. Dieses Problem erkannte ich auch in den Prüfungsergebnissen: ein paar Wenige hatten sich verbessert und die meisten blieben einfach auf ihrem Leistungsstand, obwohl sie sich allein wegen der Nähe der Abschlussprüfungen und dem Überwinden der Pubertät erfahrungsgemäß ein wenig mehr hätten verbessern müssen. Ich fügte auf meiner Lernplattform mebis zu jedem Video ein Quiz. Die Schüler mussten dieses lösen, damit die Hausaufgabe vollständig erledigt war. Andernfalls gab es nach mehreren Versäumnissen ein Nachsitzen. Gleichzeitig hatte ich aber auch einen Trumpf mehr in der Hand: Sollten die Schüler meine Videos nicht bald länger ansehen, würde ich wieder zum traditionellen Unterricht zurückkehren, so „drohte“ ich ihnen. Dies wirkte, fortan musste ich mir nicht mehr so viele Gedanken über das Betrachten der Videos machen und konnte mich voll auf den Unterricht konzentrieren.
Zufriedenheit mit dem eigenen Unterricht
Das nächste Jahr verging dann wie im Flug und war das, was ich mir unter meinem Unterricht vorgestellt hatte: Die Schüler arbeiteten größtenteils selbstständig, entwickelten einen Ehrgeiz bezüglich Ihrer Mathenote, organisierten sich im Klassenzimmer so, dass möglichst jeder einen Experten in seiner Nähe hatte, legten immer mehr Ängste gegenüber dem Fach Mathematik ab und erzielten zum Schluss tolle Ergebnisse in der Abschlussprüfung.
Tolle Ergebnisse
Ich habe mir dann am Ende die Mühe gemacht, alle Noten der letzten vier Jahre auszuwerten. Im ersten Jahr unterrichtete ich traditionell mit L-S-G, Partnerarbeit, Lehrervortrag, etc. Die Ergebnisse sind links dargestellt. Die Hochwertachse entspricht den Notendurchschnitten, die Rechtswertachse der Arbeiten, die geschrieben wurden. Man erkennt, dass ich durch meine Arbeit die Klasse nicht besser machen konnte. Der Trend war höchstens gleichbleibend. Mit dem Einsatz von Erklärvideos wurde der Unterricht besser. (Vergleiche Diagramm rechts) Am Ende hatten die Schüler einen Notendurchschnitt von 2,0 in der Abschlussprüfung (10 Einser, 13 Zweier, 6 Dreier und 2 Vierer) Bayernweit ist der Schnitt aller Abschlussprüfungen normalerweise im Bereich von 3,0. Für dieses Jahr fehlt der Vergleichswert noch.
Allerdings ist dieses Ergebnis nicht allein auf flipped classroom zurückzuführen. Erfahrungsgemäß verbessern sich alle Schüler, je älter sie werden bzw. je näher die Abschlussprüfung rückt. Darüber hinaus muss man auch von einer tollen Klasse sprechen, die eine tolle Lerngemeinschaft gebildet hatte.
Keine Übertragbarkeit
Wissenschaftlich ist diese Auswertung erst recht nicht. Die Klasse ist nicht zufällig zusammengestellt worden und die Ergebnisse sind durch sehr viele Nebeneffekte beeinflusst. Ich will mit dieser Auswertung also nicht sagen, dass Flipped Classroom besseren Unterricht macht, sondern dass er bei bestimmten Klassen ein Konzept sein kann, das funktioniert. Ich werde zumindest davon angespornt auch in den nächsten Jahren in all meinen Mathematikklassen den Unterricht umdrehen. Mit Erklärvideos unterrichten ist ja nur der Anfang, um Unterricht zu öffnen und mit einer schülerorientierten Gestaltung der Präsenzphase seine Schüler besser zum selbstorganisierten Lernen bewegen zu können. In Amerika wird übrigens schon in circa 20% aller Unterrichtsstunden nach diesem Konzept unterrichtet.
Was möchte ich Kollegen mit auf den Weg geben? Wer mit seinem Unterricht unzufrieden ist und seinen aktiven Anteil am Unterricht als zu hoch empfindet, der könnte sich einmal überlegen, mit Flipped Classroom zu unterrichten. Wenn man schon einen offenen Unterricht hat, in dem tolle Ergebnisse herauskommen (Noten wie Lerneffekte), für den ist das Konzept vielleicht weniger empfehlenswert, denn es steckt auch viel Arbeit dahinter.
Im Folgenden sehen Sie noch die Beurteilung meiner Schüler. Über die Plattform mentimeter hatte ich ihnen einige Fragen gestellt, die sie anonym beantworten durften.